Auch im Jazz, wo doch so Vieles im Moment entsteht, gibt es Dinge, die reifen müssen. Der Münchner Pianist und Komponist Andy Lutter ist ein Spezialist für die beharrliche, ja perfektionistische Entwicklung von Projekten, bis sie in der richtigen Blüte und im richtigen Kontext stehen. Sein neues Album freilich hat selbst für ihn eine ungewöhnlich lange Vorgeschichte. Was damit zusammenhängt, dass diese CD die Quintessenz der Freundschaft Lutters zu zwei herausragenden Persönlichkeiten des Jazz ist: „Café Paranoia” bringt Lutters pianistisches Talent und die vielleicht nachhaltigsten seiner Kompositionen mit dem literarischen Genius des legendären, 82-jährig verstorbenen amerikanischen Sängers und Song-Autoren Mark Murphy und mit der einzigartigen Stimme der britischen Sängerin Tina May zusammen. Eine jahrzehntelange Dreiecksgeschichte über Generationen und Kontinente hinweg, die nun in einer zeitlos modernen Hommage an den klassischen Vokaljazz und an die Musik der Bebop-Hipster aus den späten Sechziger Jahren mündet – außer von May und Lutter auch noch von Thomas Hauser am Bass und Sunk Pöschl am Schlagzeug in Klang gegossen.
So gibt Lutter gleich beim Opener „Aiming at the Moon“ funkig-spacige Sounds auf dem Fender Rhodes vor. Ob er aber am Klavier ruhige Melodien, flinke Läufe oder Latin-gefärbte Akkorde hintupft, ob er für Duett, kleine Besetzung oder, wie bei „My One and Only“ orchestral arrangiert, stets haben die Kompositionen eine Geschichte. „Less & Less“ beispielsweise entstand vor dem ernsten Hintergrund des Vergessens im Alter, als klassische Ballade auf die Zeile „I remember less & less except you baby“. „Dance Slowly“ wiederum ist im Kern Lutters alte Triokomposition „Zurückgekehrt“, zu der Mark Murphy einen Text schrieb; „After A Year“, die anrührende, später gewaltig auspendelnde Ballade, hat die kreativen Blockaden des Künstlers zum Thema. Vor Jahren komponierte Lutter die Melodie, und früh war ihm klar, dass es dafür sowohl einen besonderen Text wie eine besondere Sängerin brauchen wird. Tina Mays Songtext über die Malerei wie ihre Interpretation erfüllen jetzt diese Erwartung. „New York Skyline“ schließlich basiert auf einem bereits vor vielen Jahren geschriebenen Instrumental, das „ich schon immer mit Tina und einem ihrer Texte machen wollte“, wie Lutter berichtet.
Denn seit Lutter May 1991, während des ersten Golfkrieges, in London kennenlernte, ist er von den besonderen Fähigkeiten der blonden Schönen aus Gloucester überzeugt, die ihre Karriere in Paris und in den USA begann, bevor sie zur „Miss Jazz“ in London wurde. Schöne Stimmen gibt es viele, Sängerinnen aber, die wie May überragende Technik mit Charisma, emotionaler Kraft und Risikobereitschaft verbinden können, sind rar. Beide blieben also seither in Kontakt, sandten sich gegenseitig Kompositionen zu und tauschten sich telefonisch über neue Ideen aus. Immer wenn es die beiden gut gefüllten Terminpläne erlaubten, traten sie auch gemeinsam auf, zwei Mal klappte es sogar mit einer kleinen Deutschlandtournee. „Cafe Paranoia“ ergibt so gesehen fast eine Retrospektive dieser langjährigen Zusammenarbeit, ein Kompendium der Möglichkeiten, die beide im Lauf der Jahre ausgelotet haben, und insbesondere ein kleines Denkmal für Tina Mays Vielseitigkeit und Ausdruckskraft: Auf der Basis ihrer perfekten Time und Intonation beherrscht sie strahlend hellen Swing („New York Skyline!“) ebenso wie Hymnisches („Broken Dreams“), klassischem Balladenton („After a Year“) oder wilde Bebop-Linien („Bop till you drop“). Unerschöpflich ist ihr Phrasierungsreichtum bis in kehlig-tiefe Lagen, und sie scattet, wie das nur noch wenige beherrschen. Bestes Beispiel dafür (wie obendrein für lässigen Sprechgesang) ist „Formerly Known as Moon“ – einem von zwei live vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnittenen Stücken -, eine Hommage an die avantgardistische Bebop Welt der Beatnik-Ära, an die Zeit von Jazz&Poetry, an Mark Murphys große Zeit.
Der Text stammt von Murphy, und wie er entstand, ist ein weiteres Puzzlestück bei der Entstehung von „Café Paranoia”. Als Fan suchte Lutter in den 90ern das Gespräch mit Murphy, eine lange Freundschaft unter Kollegen ergab sich daraus. Immer wieder kam Murphy bei Lutter vorbei, “wir haben dann einfach an Ideen herumgesponnen, Mark hat sich Notizen gemacht und mir später Texte gefaxt”, erinnert sich der Münchner. Auf diese Weise entstanden auch die acht Haikus, die nun einen intelligenten, mitunter skurrilen, allem noch einmal nachhallenden Epilog von „Cafe Paranoia“ bilden – weshalb das letzte auch titelgebend wurde. Auch hier erweist sich, dass es – abgesehen vom Meister selbst – keine idealere Interpretin dafür gibt als Tina May, die Mark Murphy ja gut kennt und in England oft mit ihm arbeitete. Hört man ihre virtuose Lässigkeit, mit dem sie diesen Miniaturen ein leicht aus dem Raum-Zeit-Kontinuum gefallenes Flair verleiht, müsste man nicht ganz normal sein, um nicht in diesem Café Paranoia verweilen zu wollen.
Oliver Hochkeppel